Das Leben ist nicht immer 2+

Abendstimmung in der alten Heimat

Kürzlich war ich im Sauerland, meiner alten Heimat. Bei einem Spaziergang über Wege und Felder hatten meine 15-jährigen Nichte und ich mal ein bisschen Zeit zu zweit. Wir haben über die Schule gesprochen. Meine Nichte ist eine gute bis sehr gute Schülerin, aber jetzt hat sie eine Arbeit in Latein mit einer 4 zurück bekommen. Sie habe ein Wort falsch übersetzt und dieser Fehler habe sich dann durch die ganze Arbeit gezogen. Die Klausur sei insgesamt sehr schlecht ausgefallen, erzählt sie noch. Als wir wieder Zuhause waren, habe ich ihr einen Zehner für die Arbeit gegeben.

Warum nur? Es ist teilweise in meiner alten Heimat und wahrscheinlich auch sonst wo üblich, für gute Arbeiten und insbesondere für gute Zeugnisse Geld zu geben. Ich fand dieses Verhalten schon immer fragwürdig. Vielleicht auch deshalb, weil meine Noten in der Schule teilweise so schlecht waren, dass ich nicht auch nur zehn Pfennig bekommen hätte. Aber die Zeiten waren auch andere. 🙂

Sollte man gute Noten durch Geld-Leistungen belohnen? Hat das schon einmal irgendwen motiviert? Ich glaube es nicht. Möglicherweise hat es aber schon einige Kinder und Jugendliche unter Druck gesetzt. Vielleicht kommt – wenigstens unbewusst – die Frage auf, ob nur Leistung Anerkennung findet oder ob man auch geliebt und geschätzt wird, wenn man in der Schule nicht so gut ist und Wege anders geht oder wenn man andere Wege geht.

„Ich habe eine schlechte Note nachhause gebracht.“

Habt ihr auch schon mal so einen Satz gehört? Als wenn man Leistungen Zuhause präsentieren müsste. Vertrauen ist gut; Kontrolle ist besser? Das gilt wohl auch hier. Wenn wir Geld nicht für gute sondern für schlechte Noten geben oder erhalten würden, könnte es dafür einige gute Gründe geben:

  • Schon einmal in einer Arbeit eine schlechte Note zu haben, entspricht der Realität. Das Leben ist auch nicht immer 2+. Wir können uns nicht immer oben halten. Wenn man mal gefallen oder nur gestrauchelt ist, dann ist es umso schöner, wieder einen guten Stand und einen guten Gang zu finden.
  • Haben Schüler*innen auch Misserfolge, die gut begleitet werden, erleben sie schon früh ein Stück Realität. Wir werden irgendwann alle mit Problemen und Krisen konfrontiert sein. Was spricht dagegen, sich schon früh damit zu beschäftigen, dass wir auch scheitern können? Wichtig ist natürlich, dass Lehrende nicht einfach „4“ unter die Arbeit schreiben und die Arbeit mit keinem oder mit einem destruktiven Kommentar auf das Pult des Schülers oder der Schülerin werfen. Es ist kontraproduktiv, wenn die Eltern nach dieser „schlechten“ Nachricht betroffen schauen oder sie sogar in irgendeiner Form abstrafen. Können Kinder und Jugendliche den Eltern die Zensur mitteilen, ohne negative Äußerungen und Konsequenzen befürchten zu müssen? Übrigens kann Schweigen auch negativ sein.
  • 4 ist ausreichend. Lasst uns die Note beim Wort nehmen. Es reicht aus. 4 ist die Basis um weiter zu lernen.

Die Basis weiter zu lernen

Es geht hier nicht nur um das System Schule, sondern um alle Bereiche, in denen wir uns bewegen. Es geht natürlich auch um Organisationen. Wir können uns folgende Fragen stellen, um zu überprüfen, wo wir gerade stehen.

  • Kann und darf ich es mir leisten, Umwege zu gehen und so zu lernen?
  • Darf ich Pausen machen oder muss ich nonstop Leistungen erbringen?
  • Geht es um schnelle und effiziente Ergebnisse oder geht es um Handeln mit Wirkung?
  • Werde ich ausschließlich als Leistungsträger*in wahrgenommen oder als Mensch mit Stärken und Schwächen und mit Wünschen und Ideen?
  • Kann ich mich erholen, um dann wieder kreativ zu sein?
  • Habe ich die Möglichkeit, mich zu entwickeln oder ist nur Selbstoptimierung angesagt?
  • Ist es mir möglich, mit anderen gemeinsam das System zu verändern? Hier geht es um die Einführung und Nutzung partizipativer Prozesse.

Es wäre sehr schön, wenn wir alle in in der Schule, in der Familie und in Organisationen die Möglichkeit haben, uns in unserem eigenen Tempo und mit einer wertschätzenden und befähigenden Begleitung zu entwickeln.

Und diejenigen von uns, die immer gut sind oder gar sehr gut: Sie dürfen auch etwas lernen. Sie dürfen sich in Bescheidenheit üben. Sie dürfen die vielen Grenzen erkennen, die Noten, Beurteilungen und Qualifikationen haben. Sie dürfen Erfolge teilen und Wissen vermitteln. Sie dürfen anderen Nachhilfe geben. Und sie dürfen Nachhilfe in den Bereichen annehmen, die sie nicht so gut beherrschen.

Lasst uns in allen Bereichen und Systemen zur guten Teamarbeit kommen und gemeinsam lernen und handeln.

Titelfoto: Christian Zepke

Diesen Artikel widme ich meinen beiden Patenkindern im Sauerland.

8 Antworten auf „Das Leben ist nicht immer 2+

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  1. Schade, dass du meine Eltern nicht beeinflussen konntest…. 😉 Deine Haltung hätte mir geholfen! Danke…. ich werde sie an die nächste Generation weiterleiten. … und in mein Leben einfließen lassen… Beate

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  2. Da musste ich ein wenig grinsen, nicht ganz unähnliches haben wir mit unserer Tochter vor wenigen Wochen erlebt: Mit einem 1,x Schnitt hatte unsere Tochter das Erlebnis, in einem Nebenfach eine Sechs zu bekommen. Wir haben das mit einem gewissen „Augenzwinkern“ symbolisch ‚gefeiert‘. Wir sehen das ähnlich wie Du, das Leben ist nicht immer 2+ und auch diese Erfahrung ist für die nächsten Schritte in ihrem Leben eine wertvolle Erfahrung.
    p.s.: In der „Nachlese“ der Arbeit, hat unsere Tochter dann auch verstanden, wo sie trotz vieler, schön geformter Sätze komplett daneben gelegen hat…diese Reflexion ist umso wertvoller gewesen 😉

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  3. Deine Empathie mit Deiner Nichte berührt mich. Ich freue mich über Deinen Artikel. Warum darf ausreichend nicht „ausreichend“ sein in unserer Leistungsgesellschaft? Bei einer bestimmten Veranlagung ist es möglich, sich bei Prüfungen zu verzetteln und eine andere Richtung einzuschlagen, die eigentlich vorgesehen ist. In der heutigen Zeit kann eine Person mit ungewöhnlichen Ideen vielleicht die Idee haben, die wir als Gemeinschaft benötigen und die unsere Umwelt aktuell braucht. Ich finde es super, dass Du Dich auch selbst hinterfragst und dem jungen Menschen freies Denken vorlebst.

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  4. Ja es ist nicht immer 2+ …und das ist gut so, das zu sehen. Du erinnerst mich damit an einen frühe Berufserfahrung.Ich habe am Anfang meiner beruflichen Laufbahnn „schwierige“ Jugendliche betreut. Dabei habe ich erfahren und schätzen gelernt, daß ihre Vorderseite viele mangelhafte Stellen auswies und selten über eine vier hinaus kam, aber sie auf der anderen Seite im Kontakt und in der Beziehung Zweier und Einser hatten.

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  5. Ja es ist nicht immer 2+ …und das ist gut so, das zu sehen. Du erinnerst mich damit an eine frühe Berufserfahrung.
    Ich habe am Anfang meiner beruflichen Laufbahn „schwierige“ Jugendliche betreut. Dabei habe ich erfahren und schätzen gelernt, daß ihre Vorderseite viele mangelhafte Stellen auswies und selten über eine Vier hinaus kam, aber sie auf der anderen Seite im Kontakt und in der Beziehung Zweier und Einser hatten.

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    1. Ja. Danke. Es darf alles sein. Und es ist erst einmal so wie es ist. Hauptsache, wir sehen nicht nur die „Vorderseite“ (schönes Bild) sondern den ganzen Menschen mit seiner Entwicklungsfähigkeit. Wir könnten mal ein Blog-Gespräch führen. 🙂

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